Mit Geduld und Stahl

Mit Geduld und Stahl
Die Zeit, 48/1998

Gegen die männliche Beschneidung formiert sich eine Lobby.
„Restorer“ geben Tips zur Wiederherstellung der Vorhaut
Von Carl Wiemer und Urs Willmann

Wenn Sie diesen Satz zu Ende gelesen haben, ist schon wieder einem Penis, vermutlich im jüdischen oder einem islamischen Staat, die Vorhaut abhanden gekommen. Allein in den USA, dem einzigen Land, das es ohne religiöse Gründe zu einer beschnittenen Männermehrheit gebracht hat, wird an sechs von zehn männlichen Neugeborenen der dort häufigste aller Eingriffe durchgeführt. 3300mal Tag für Tag. Macht alle dreißig Sekunden eine Beschneidung.

Pardon: sexuelle Verstümmelung. Denn seit sich, vor allem in den USA und im Internet, spärlicher noch in Europa, auch zu dieser Facette menschlichen Leids Selbsthilfegruppen gebildet haben, zählt das abgetrennte Stück Fleisch wieder mehr als bloß ein Fetzen Haut. Ohne die – je nach Schnittstelle – 20 bis 75 Quadratzentimeter Vorhautfläche, so die Botschaft der Antibeschneidungsaktivisten, ohne die 80 Meter Nerven, ohne die darin steckenden 1000 Nervenenden, die das Stück ex aequo mit Lippen und Fingern zum empfindlichsten sensorischen Organ machen, quält sich der sexuell Aktive lustloser durchs Leben. Denn laut Studien des französischen Urologen Gérard Zwang wird bei der Beschneidung nicht nur ein hochempfindliches Teil weggeschnitten, sondern auch ein Organ frei- und damit trockengelegt, das als inneres Organ gedacht sei: die Penisspitze mit ihrer weichen, feuchten, hochempfindlichen Oberfläche. Die Drainage der Eichel führe zu einem desensibilisierten Penis, zu verminderter Gleitfähigkeit, zu Spannungsgefühlen bei der Erektion und letztlich zum Teilverlust des sexuellen Spaßes. Die Ärzte, Psychologen, Juristen und Menschenrechtsexperten, die sich kürzlich zum fünften internationalen Symposium über sexuelle Verstümmelung in Oxford trafen, waren sich über die Verheerungen, die der Schnitt in der männlichen Libido anrichtet, einig. Diese Tatsache werde in den Krankenhäusern und Arztpraxen der westlichen Welt ignoriert. Zudem kamen sie zum provozierenden Schluß, daß es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Beschneidung weiblicher und männlicher Genitalien gebe. In beiden Fällen werde das sexuelle Empfindungsvermögen erheblich reduziert, ohne die Möglichkeit der Fortpflanzung zu zerstören.

Über einen gewichtigen Unterschied aber referierten die von der amerikanischen Beschnittenen-Lobby National Organisation of Circumcision Resource Centers (NOCIRC) und der britischen Filiale der National Organization of Restoring Men (NORM) geladenen Referenten einen ganzen Tag: Beim Mann gibt es ein Zurück zur verhüllten Penisspitze. Die männliche Beschneidung ist reversibel, ohne Skalpell, dafür mit Geduld – und Klebestreifen.

Der Kalifornier Wayne Griffiths, Leiter von NORM, erklärte die Techniken, mit denen sich am verbliebenen Hautrest so zupfen läßt, daß sich spätestens nach zwei Jahren der Beschnittene wieder als intakter Mann fühlen kann. Beständiges Dehnen – zehn bis zwölf Stunden täglich – übt eine Spannung auf das Gewebe des Penisschaftes aus und veranlaßt die Haut zur Bildung neuer Zellen. Mit Pflaster wird erst der Hautrest bis über die Eichel gezogen und angeklebt. Später sorgen Gummiringe und Metallgewichte für die nötige Spannung. Die restaurierte Vorhaut könne die unempfindlich gewordene Eichel wieder sensibler machen, ja sogar zur Behebung von Impotenz beim beschnittenen Mann führen, berichteten die Experten in Sachen Vorhaut-Wiederherstellung.

Die Idee einer sogenannten Restoration ist nicht neu. Die erste Beschreibung einer chirurgischen Wiederherstellung stammt vom Römer Celsus. Johann Friedrich Dieffenbach, Begründer der modernen plastischen Chirurgie, verfeinerte im 19. Jahrhundert die antiken Methoden. Die chirurgische Restoration mit Hilfe angenähter Hautlappen birgt auch heute noch Risiken und ist obendrein teuer. Billiger geht es ohne Skalpell. Die auf dem US-Markt angebotenen tuggers, an der Haut zerrende Zylinder aus rostfreiem Stahl, gibt es in allen möglichen Größen und je nach Stadium des Dehnungsprozesses in verschiedenen Gewichtsklassen. Erste Erfolge verspricht der Hersteller nach zwei Monaten, das Erreichen der gewünschten Länge nach ein bis zwei Jahren. Jeansträger müssen in dieser Zeit allerdings ihre Gewohnheit ändern. Für eine „diskrete Performance“ wird „locker sitzende Kleidung empfohlen“.

Warum aber, fragen sich beschnittene Männer, die ihr Schicksal ein Leben lang ohne Muckser ertragen haben, wird bei Jungen „dort unten“ überhaupt etwas abgeschnitten? Juden gilt die Männerbeschneidung seit Abraham als Zeichen ihres Bundes mit ihrem patriarchalen Gott. Neben dem religiösen Aspekt handelt es sich auch um ein Reinigungsritual. Denn in den Regionen, in denen seit Jahrtausenden am kleinen Freund herumgeschnitten wird, herrscht oft Wassermangel. Entsprechend schwierig gestaltete sich die regelmäßige Reinigung, und Stammesführer Abraham, so wird vermutet, wählte die effektivste Methode, Erkrankungen vorzubeugen, die sich im immerfeuchten Mikrobenbiotop unter der Vorhaut anbahnen können. Auch im Islam ist der Eingriff noch heute fester Bestandteil. Und in den USA wurde er gängige Praxis, nachdem 1870 der Arzt Lewis Sayre mit missionarischem Eifer die Vorzüge der Beschneidung zu predigen begann, nachdem er angeblich einen Fünfjährigen mittels Beschneidung von einer Lähmung geheilt hatte.

Moralapostel des Viktorianischen Zeitalters begrüßten die Reduzierung der Empfindungsfähigkeit als willkommenen Effekt und feierten die Zirkumzision als Präventivmaßnahme gegen Masturbation, als „Befreiung“ von Selbstbefriedigungsgelüsten. Ihnen hatte nicht gepaßt, daß der heranwachsende Jugendliche unter der Dusche spätestens beim Zurückziehen der Vorhaut und Einseifen der Eichel einen Lustgewinn verspüren könnte. Ohne Vorhaut fiel das verführerische Rubbeln weg.

Auch in Deutschland, so wurde an der Oxforder Konferenz vermutet, sind Hunderttausende von Männern der Mischung aus verklemmter Moral und irrigen Hygienevorstellungen zum Opfer gefallen. Kein einziger der angeblichen Vorteile der Beschneidung, ist Christopher Fletcher, Pädiater und Chirurg aus New Mexico, überzeugt, halte einer medizinischen Prüfung stand: weder die Legende von größerer Sauberkeit noch die Behauptung, damit könne Peniskrebs vorgebeugt werden. Nahezu alle Infektionen und Erkrankungen, die an der Vorhaut auftreten, sollten konservativ behandelt werden. Kurieren durch Amputieren sei so dumm wie der Versuch, einer Nasenentzündung durch Entfernung des Riechorgans beizukommen. Gleich mehrere Konferenzteilnehmer räumten mit der Legende auf, Phimosen (Vorhautverengungen) müßten chirurgisch behoben werden. Das Beispiel der skandinavischen Länder zeige, daß dies kaum jemals medizinisch geboten sei. Dort werden Phimosen ausschließlich mit Salben und behutsamem Dehnen der Haut behandelt.

Damit ersparen die Nordländer ihren Kindern einen Schmerz, dem die Hälfte der männlichen amerikanischen Neugeborenen heute noch ohne Narkose ausgesetzt ist. In einer im Juli veröffentlichten Studie der Healthpartners Medical Group in Minneapolis gaben 55 Prozent von 1769 befragten Ärzten an, bei diesem Eingriff keine Schmerzmittel zu benutzen. Dabei ist längst erwiesen, daß Neugeborene genauso schmerzempfindlich sind wie Erwachsene. Wird die Prozedur ohne Betäubung durchgeführt, so demonstrierten Forscher in Toronto letztes Jahr bei 87 halbjährigen Jungen, beeinflußt dies das Schmerzempfinden: Ohne Anästhesie Beschnittene empfanden bei späteren Routine-Impfungen mehr Schmerz als Unbeschnittene oder Babys, die damals eine örtliche Betäubung erhalten hatten.

„Eine Beschneidung verursacht einen derart traumatischen Schmerz, daß es zu einer Schädigung der Hirnentwicklung kommen kann“, glaubt der kalifornische Psychologe James Prescott. Für Fletcher ist Beschneidung daher ein Beispiel dafür, wie hartnäckig sich medizinische Maßnahmen mit uraltem sadistischem Ursprung halten. In der Antike seien Besiegte, Gefangene oder Sklaven zum Zeichen der Unterwerfung beschnitten worden.

Ob er sich deswegen nach Anleitung der Betroffenenverbände als sexuell verstümmeltes Opfer fühlen muß, darf sich der beschnittene Mann allerdings getrost fragen. Auch, ob das Menschenrecht von 400 Millionen Muslimen gleichermaßen verletzt ist, wie das einer Afrikanerin mit verstümmelter Klitoris – so lautete jedenfalls der zynische Tenor der auftretenden Männer und wenigen Frauen in Oxford.

Daß sich in Deutschland Homosexuelle freiwillig unters Messer legen und damit aus der „eigenen Beschädigung einen Lustgewinn zu erzielen“ hoffen, betrachteten die Teilnehmer des Oxforder Symposiums als „skurrile Note“. Die meisten Erwachsenen, die sich beschneiden lassen, versprechen sich aus der Freilegung der Eichel offensichtlich einen neuen sexuellen Kick. Ob sie den spüren, ist umstritten, gibt es doch Männer, die an vorzeitigem Samenerguß leiden und sich aus dem Eingriff genau das Gegenteil erhoffen: daß mit abgestumpften Reizen das Spiel länger dauert.

Ob die „sexuell verstümmelte“ Männerwelt insgesamt unglücklicher durchs Liebesleben geht? Immerhin läßt sich bei manchem der Schaden beheben. Und es scheint, daß die unfreiwillig Versehrten aus der Not eine Tugend machen. Eine Studie der Universität Chicago verglich die Bandbreite sexueller Praktiken von Beschnittenen und Unbeschnittenen. Das reichhaltigere Inventar ermittelten die Forscher bei Männern ohne Vorhaut.